Oslo.Stockholm.Helsinki.Sankt Petersburg.Estland – ein Reisebericht

Mein Entschluß, Norwegen als Ausgangspunkt zu nützen, um einmal abseits der Entbehrungen und der skandinavischen Härte des Studienalltags an der Universität von Oslo in ein mir bisher unbekanntes Nordeuropa einzutauchen, führt mich bis an den denkbaren östlichen Rand, nach Sankt Petersburg.

Intensiver können Reiseerlebnisse vermutlich nicht sein, denke ich mir heute, nachdem ich gestern Rußland wieder verlassen habe und nun aus einer Bar in Tallinn in Estland Bericht erstatte. Die subjektive Welt eines formulierfreudigen Reisenden, auf nordeuropäischen Pfaden wandelnd, in den folgenden Zeilen.

Tag 1. Abfahrt 23.00 Uhr. Mit dem Bus aus Oslo über Nacht nach Stockholm, das sich meinen beiden Begleitern, meiner Kärntner Wohnungskollegin B., sowie H., einem desillusionierten Skandinavistik-Studenten aus Salzburg, und mir glanzvoll präsentiert. Auch wenn wir einige Tage später noch überrascht werden sollten, vermuten wir die Pracht nur schwer überbietbar. Gediegene Bürgerhäuser erlauben einen weiteren – und im Vergleich zu Oslo umfangreicheren – Einblick in die nordeuropäische Architektur der vergangenen Jahrhunderte; Sehenswürdiges, verteilt auf Inselgruppen, läßt auf Reichtum und Tradition schließen.

Wer aus Norwegen kommt, erlebt den Rest der Welt sowieso günstig; die Stadt lädt zum Leben ein. Mit der Bustour beginnt eine Reihe von weiteren Instant-Touristen-Informationsfahrten. Was bleibt uns bei einem 1-Tages-Besuch auch übrig? Ähnlich wie in Kopenhagen Anfang Mai schenkt die schwedische Sprache einem alten Norweger wie mir vertraute Töne und Wörter. Es sollte zum letzten Mal sein: Mit dem laufenden Wechseln der Währungen verändert sich die Sprache, später auch die Zeitzone. Auf dem schwedischen 20-Kronen-Schein entdecke ich winzig Nils Holgerson, der mit seinen Gänsen über skandinavische Felder hinwegzieht. Gefällt mir.

Über Nacht geht es mit der Fähre weiter nach Turku, einer Stadt im Südwesten Finnlands. Das graue Regenwetter paßt zur grauen Stadt, eine finnische Mitauslandsstudentin aus Oslo verfrachtet uns am Hafen in ihren Wagen. Wir fahren zu ihrer Wohnung. Die Information im Telefongespräch mit einem russischen Konsulatsangestellten stellt sich als falsch heraus: „Half past twelve“ heißt für Russen offensichtlich Halb Zwölf. Sein gebrochenes Englisch hätte ihn verdächtig machen sollen, doch Tage zuvor hatte noch eine Angestellte der russichen Botschaft in Tallin mein Telefonat und die Bitte um Ansprechpartner, die des Englischen mächtig sind, mit den Worten „Parrerusski, Parrerusski“ lautstark aber nachhaltig beendet. Wir haben also Grund zu hoffen, doch kommen wir zu spät, um an diesem Tag noch ein Visum für unsere geplante Einreise nach Rußland zu erhalten.

Turku tröstet darüber nicht hinweg. Im Vergleich mit Turku wird sogar Attnang-Puchheim zur Stadt mit Flair. Bilde ich es mir nur ein, oder ist hier russischer Einfluß bereits bemerkbar? Wenigstens haben wir ein Motiv gefunden, warum wir uns am Abend mit finnischem Bier zu ersäufen versuchen. In einer Bar zu sehr später Stund (die Sonne geht auf diesem Breitengraden nicht wirklich unter) lädt uns ein Finne auf eine angebliche alkoholische Spezialität des Landes ein. Es klingt wie Salmiak, schmeckt wie flüssige Lakritze, in Brause aufgelöst – nur mit viel Alkohol. Erleichtert stelle ich am nächsten Morgen fest, dass ich nicht erblindet bin.

Wir erreichen den Zug nach Helsinki. Das Vorbeifahren am Nokia-Werk verschlafe ich, sicher habe ich davon geträumt. Später fällt mir ein Interview mit dem König von Nokia, Jorma Ollila, in die Hände. Er wird dabei mit dem Gründer von Virgin, Richard Branson, verglichen. They all have understood to grab the last taboo. Ich habe meinen neuen Helden der Gegenwart entdeckt.

Helsinki läßt mich den wirtschaftlichen Boom Finnlands in den letzten Jahren spüren. Kaltes Hight-Tech stößt auf byzantinisch beeinflußte Tradition, auch Europa läßt sich nicht leugnen. Wie selten zuvor auf diesem Kontinent, mit der einzigen Ausnahme Ungarn (welch Zufall!), bleibt die Sprache für mich völlig unzugänglich, die Informationen auf der Straße und das Gequatsche der Leute auf der Straße macht das spürbar, später sollte ich den Wert zumindest der gemeinsamen Buchstaben wieder zu schätzen lernen.

Wie schon in Oslo und Stockholm wirbt auch in Finnland seit Turku ein Radiosender ums Zuhören, indem er Energie verspricht. Wiedererkennen des Logos wird zur fröhlichen Genugtuung. Mein Radio habe ich zu Hause vergessen. Vermutlich Austauschbares bleibt mir damit erspart.

Der schnelle Überblick in der Stadt verhindert, Helsinki als Metropole zu bezeichnen. Finnische Küche ausfindig zu machen, gelingt uns weiterhin nicht, vielleicht auch ein Segen. Die Bustour wird neben 7 anderen Sprachen auch auf Latein angeboten, finnisch ausgesprochen dennoch unverständlich. Mitten in der Stadt eine Kirche, in Stein gehauen, beeindruckt mich, bringt mir Gott dennoch nicht näher. Die Zwiebeltürme auf den Kirchen der Griechisch-Orthodoxen sind keine Zwiebel, sondern Flammen? Wer hätte das gedacht.

Die russische Botschaft empfängt uns mit offenen Armen, mit beiden knöpfen sie uns Geld für das Visum ab, dennoch müssen wir uns vorher noch anstellen. 3 Photos (schwarzweiß ist Pflicht) und eine Einladung nach Rußland und eine Reiseversicherung sind vorzuweisen. Fürs schnelle Erledigen müssen wir einen Aufschlag zahlen, immerhin wollen wir am nächsten Tag nach St. Petersburg. Auch dass wir Österreicher sind, kostet uns noch einmal eine Extragebühr. Unser Reisebudget ist damit erschöpft, bevor wir russische Erde betreten.

Am nächsten Tag sollen wir wiederkommen, erklärt uns die Beamtin hinter dem Schalter. Freundliches Lächeln ist zu unserer Überraschung erkennbar, wenn auch unterdrückt. Wäre Arbeitslos-Sein in der Sowjetunion nicht strafbar gewesen, hätte ich vermutet, Freundlichkeit wäre ein Kündigungsgrund gewesen. In meinem Übermut erkläre ich dem russischen Major in der Botschaft, dass das Klopapier in der hauseigenen Toilette zu Ende sei, als er mich endlich versteht, zuckt er die Schultern und zeigt mir seine Vorderzähne im breiten Grinsen, beide sind aus purem Gold. Kurz fühle ich mich wie ein Kameramann für einen Agentenfilm.

Die Jugendherberge bietet in der Früh Morgensauna an, in Finnland freilich Teil der Kultur. Die Chance zur schweißtreibenden Hitze vor dem Frühstück lasse ich mir nicht nehmen, anschließendes Pool entspannt.

Am Nachmittag ist es die russische Zuggarnitur, welche die Reisenden nach St. Petersburg transportiert. Wie seinerzeit Lenin reisen wir quasi fast-aus-der-Schweiz an, nur haben wir unsere Revolutionspläne für dieses Mal beiseite gelegt. Schaffner mit überdimensionierten Schirmkappen weisen uns den Weg.

Muffiger Geruch, antiquierte Rüschenvorhänge irritieren meinen Entschluß nicht, in einigen Jahren Rußland mit der Transsibirischen Eisenbahn durchqueren zu wollen. Wladiwostok, ich komme. Doch vorher ist noch das frühere Leningrad angesagt. Ein Formular erfordert detailliert die Angabe aller mitgenommenen Sachen samt Wertangabe. Mein erwogener Protest, dass die Angabe der mitgenommenen Bücher als unverhältnismäßige Beschränkung der Informationsfreiheit zu werten ist, verstummt angesichts der militärisch uniformierten Paßkontrolltruppe. Das Abteil müssen wir räumen, es wird kontrolliert, ob wir jemanden versteckt haben.

Wir erreichen unsere Destination noch vor Mitternacht, die Uhr müssen wir um eine Stunde vorstellen, einige Jahre zurück würde besser passen. Erstmals bin ich soviele Stunden östlich meines vertrauten Wiens entfernt. Auf dem Weg zur Herberge kommunizieren ausschließlich kyrillische Schriftzeichen Straßennamen und Werbung, im erstem Moment verschlüsselt, dennoch eindeutig: Willkommen in einer anderen Welt.

Wir landen in einer Bar, abgesehen vom schwarzen Kellner aus Burundi sind wir die einzigen Nicht-Russen. Bier aus Budweis kühlt unsere Kehlen, zu spät erfahren wir, dass der Preis von Importbieren über dem üblichen in Österreich liegt. Das Rätseln, wieviele der weiblichen Begleiterinnen an den Tischen um uns herum sich für ihre Dienste bezahlen lassen, wird zum willkommenen Gesprächsthema. Wir werden es wohl nie erfahren.

Der Spaziergang am nächsten Morgen überwältigt uns. Naiv hatten wir das Kustmuseum Hermitage und ein bißchen mehr erwartet. Wenn ich von der Pracht, Blüte und Schönheit der Stadt schreibe, muß es wohl wie unbeholfener Reisejournalismus klingen. Es ist dennoch wahr. Freilich schmutzig, freilich im Umbau, freilich nur in Ansätzen erst wieder herausgeputzt, freilich Fassade des Prunks im steilen Gegensatz zur Armut des Volkes, hat die Fülle faszinierender Eindrücke kein Ende.

Vieles verweist auf Potential, vieles noch in Ansätzen, dennoch purer Genuß. Unser Lonely-Planet-Reiseführer wird einmal mehr zum unverzichtbaren Kompaß. „Ist Moskau die asiatischste Hauptstadt Europas, ist St. Petersburg die europäischste Stadt Rußlands“, steht zu lesen. Das paßt.

Das geplante Treffen mit Lydmila, meiner Bekannten aus Moskau, scheitert an den ausgebuchten Zügen und Fliegern nach St. Petersburg: Der Montag ist Feiertag, die Russen feiern ihre Unabhängigkeit. Ihr Sekretär konnte keine Tickets mehr auftreiben, schickt sie mir aufs Handydisplay. Sie hat es wohl geschafft, denke ich mir, vor 3 Jahren in Berlin war wir beide noch Jus-Studenten.

Zur Orginal-russischen-Borsch-Suppe gibt es Vodka auf Kosten des Hauses. Wir sind in einem Cafe gelandet, das angeblich von Dostojewsky persönlich gegründet worden war. Wasser aus der Leitung ist in ganz St. Petersburg verseucht und nicht trinkbar, dunkles Bier erweist sich als tauglicher Ersatz.

Mit dem Lada-Taxi geht es wieder zur Jugendherberge, russische Popmusik übertönen die quietschenden Rufe auf der Fahrt quer durch die Stadt. Der Dollar wird zur inoffiziellen zweiten Währung, umgerechnet 75 Schilling halten wir für günstig, später erfahren wir, dass es dreifach überzahlt ist. Wir beschließen, beim nächsten Mal wieder zu verhandeln. Englisch bleibt exotisch, wenigstens die auf Papier gekritzelten Zahlen beim Einkaufen werden zum erleichternden, gemeinsamen Nenner der Verständigung.

MTV sendet hier bereits russisch moderiertes Musikprogramm, Pepsi als Kooperationspartner profitiert angeblich unverschämt. Abends findet die aufgeheizte Gesichtshaut im verrauchten Kellerlokal Abkühlung. Eine russischen Liveband schenkt uns ungewöhnlichen Vokale. Der wolkenlose Himmel über St. Petersburg auf dem Nachhauseweg mitten in der Nacht braucht keinen Mondschein, hell erleuchtet werden die „White Nights“ als Touristenhigh-light um diese Zeit des Jahres mit dem wahrsten Wortsinn beworben. Quasi Mitternachtssonne. Um darauf einen White Russian in einer Cocktailbar zu trinken, ist es zu spät. Wir wollen am nächsten Tag früh auf.

Die wenige Zeit lassen uns zu Checklist-Touristen mutieren. Das Privileg der Zaren, gesammelte Kunstwerke aus aller Welt zu betrachten, ist nun dem gemeinen Volk gestattet, ein Hoch der der Revolution. Unsere Entscheidung, daß wir uns angesichts unendlicher auf mehrere Stockwerke verteilter Kunstschätze in der Hermitage auf die moderne Kunst beschränken, stellt sich als geschickt heraus: Van Gogh, Picasso, Kandinsky manifestieren einen anderen Blickwinkel. Dem Surrealismus hatten die Kommunisten bis zum biteren Ende das Podium verweigert.

Ein einheimischer Touristguide erzählt uns, dass eine 70-Quadratmeter-Wohnung um eine halbe Million Schilling zu haben ist. Das verlockt an so sonnigen Tagen. Als mir bewußt wird, dass im Winter die Nächte lang und die Temperatur bei minus acht Grad ist, verliere ich wieder die Lust, den Gedanken weiterzuspinnen.

In Shops und auf der Straße gibt es CD-Roms mit täuschend echten Covern um umgerechnet 30 Schilling. Der Rubel rollt. Der Abschied fällt schwer. Zu kurz die 48 Stunden. Ich beschließe, dem ruhenden Tschaikowsky erst beim nächsten Besuch die Ehre zu erweisen.

Im Bus nach Estland stoßen wir auf einen Mitreisenden, der in der DDR für die Sowjetunion als Offizier im Nachrichtendienst gearbeitet hat, wie er erzählt. Heute ist er Inhaber des estnischen Reisepaßes. Das verschmitzte Lächeln des Spions aus alten Tagen, das ihm bei deutschen Phrasen über die Lippen kommt, läßt ihn für mich die Ironie der Geschichte verkörpern. Ich frage mich, woran dieser Mensch heute noch glauben soll.

Entlang des Weges ins Baltikum Dörfer und Städte, die ausschließlich aus gigantischen Wohnblöcken bestehen. An der russischen Grenze müssen wir den Bus verlassen, unser Gepäck wird von den Russen durchleuchtet, so als würden wir ein Flugzeug besteigen, Paß samt Ausreisevisum genauestens inspizierte. Beate mit ihrer alten österreichischen Version – grün und groß – braucht erst das OK der Vorgesetzten. Zweihundert Meter später das selbe Spiel auf Seite Estlands. Wo vor neun Jahren noch ein einziger Staat war ist heute demonstrativ Abgrenzung angesagt.

Als der Bus ein weiteres Mal kurz anhält, läßt mich das auch die Frau in der Imbißstube am Straßenrand spüren: Weder Rubel, noch Dollar, noch finnische Mark, noch schwedische oder norwegische Kronen noch österreichischer Schilling samt entsprechendem Charme erweichen ihr Herz. Wir werden uns nicht einig, ich muß vorerst wohl weiterhungern – und später einmal mehr Geld wechseln.

Wir sind in Tallinn angekommen. Unsere Hoffnung auf die ersehnte Rückkehr in den Bereits-Westen stellt sich als überzogen heraus. Freundliches Zugehen auf potentielle Auskunftspersonen veranlassen diese wegzulaufen. Wir fühlen uns nicht willkommen, bleiben dennoch.

Enge und verwinkelte Gassen in der Altstadt stellen in naher Zukunft eine magnetisierende Wirkung auf Touristenströme in Aussicht. Tallinn war eine Hansastadt, das gemeinsame mit Hamburg und Bergen ist spürbar, wenn auch – noch – vernachlässigt. Wie noch nie zuvor ist dennoch meine Lust auf eine weitere Stadt auf Null gesunken, meine Aufnahmekapazität für weitere Eindrück zu Ende. Nicht kraftlos, aber mit intensiver Inspiration überladen. In einer Bar finde ich meine Ruhe. Von hier kann ich diesen Bericht verfassen.

Morgen geht es zurück nach Oslo, ich werde mir wohl für ein paar Tage eine der vielen Hütten in meinem „Norwegian Wood“ suchen, oder auf einer der Inseln vor Oslo landen. Hauptsache wieder Natur, Sehnsucht nach Ruhe, Raum zum Einordnen der zahlreichen Eindrücke. Meine neue Heimat im Norden Europas, in die ich rückkehren werde, geizt damit nicht, das ist bekannt.

(Das muß man sich jetzt so vorstellen, dass ich auf meinem Pferd gegen Sonnenuntergang (im Westen) reite und nur mehr in Umrissen erkennbar bin. Wegen des Gegenlichts. I am a Lonesome Leningrad Cowboy)

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